INTERVIEW ZU FAUSTiN AND OUT (Mottingers Meinung)

Am 14. Dezember hat am Schauspielhaus Graz “Dr. Jekyll und Mr. Hyde” nach der Erzählung von Robert Louis Stevenson Premiere. Stevenson, unter anderem Autor des Klassikers Die Schatzinsel, schrieb die Novelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde 1886. Neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik und Wissenschaft bescherten damals den Menschen auf einen Schlag neue Freiheiten und Risiken. Im Dilemma der Doppelfigur Jekyll/Hyde, der Aufspaltung zwischen Gut und Böse, schuf Stevenson einen Stoff, der nun im 21. Jahrhundert mit der Frage, wie man leben möchte, neue Gültigkeit erfährt. Dr. Jekyll ist in seiner Forschung auf die Möglichkeit gestoßen, einen Teil seines Ichs abzuspalten und in ihm all das auszuleben, was ihm sonst verwehrt bleibt: Entgrenzung ist das Zauberwort! Der Traum vom Ausleben der Sehnsüchte, auch der dunklen, ohne dafür belangt, ohne in seinem Umfeld erkannt zu werden, wird für ihn Wirklichkeit. Doch Dr. Jekylls Selbstversuch geht schief und die andere Identität Hyde ist bald nicht mehr bereit, nur der Erfüllungsgehilfe für den Doktor zu spielen. Jekyll hat sich seinen eigenen Todfeind geschaffen! 

 

Michaela Mottinger: Wie kam es zur Beschäftigung mit Jekyll und Hyde? Was ist für Sie der Reiz an der Geschichte von Robert Louis Stevenson?

 

Philip Jenkins: Für mich ist „Jekyll und Hyde“ ein außerordentlich interessanter Stoff, weil es um Verwandlung geht, ein Ur-Thema des Theaters – Verwandlung im tatsächlich existentiellen Sinne. Ein anderes wichtiges Thema ist Freiheit. Jekyll sieht die Chance, sich nicht nur als Individuum frei zu machen, sondern sogar sich von sich selbst als Individuum zu befreien. Es gelingt ihm anscheinend, sein Gewissen nach Belieben an- und abzuschalten und seine Sehnsüchte komplett in eine andere Person zu verlagern. Das heißt, er kann sich auf der einen Seite rücksichtslos ausleben, auf der anderen Seite bleibt er ein verantwortungsvoll funktionierender Bürger mit reinem Gewissen. Diese vollkommene Freiheit Jekylls kippt allerdings ins Gegenteil: Als Hyde die Kontrolle übernimmt, verliert Jekyll nach und nach das, was selbst dem Unfreiesten immer noch bleibt, nämlich mit sich eins und identisch, sprich „individuell“ zu sein. Das Dilemma Jekylls, gleichzeitig frei und verantwortungsvoll zu sein, die scheinbare Überwindung dieses Dilemmas und die katastrophalen Folgen – das finde ich hochaktuell.

 

MM: Wann haben Sie den Roman zum ersten Mal gelesen? Und was dabei gedacht, empfunden?

 

Jenkins: Den Roman habe ich, glaube ich, mit 18 zum ersten Mal gelesen. Fasziniert hat mich daran das, was wohl bis heute die Popularität der Geschichte ausmacht: Die vereinfachte, aber eben nicht banalisierte Grundkonstellation für eine Vielzahl von komplizierten Problemen. Deshalb ist „Jekyll und Hyde“ einer der wenigen modernen Großstadt-Mythen geworden, ähnlich wie die ebenfalls viktorianischen Mythen „Sherlock Holmes“ und „Dracula“.

 

MM: In Ihrer Fassung haben Sie der Story das „Viktorianische“ runtergeräumt. Es bleibt ein Philosophieren um „Bewusstsein“. Ihr Jekyll scheint mir weniger Arzt als Mathematiker in einer Gödel’schen Variation. Ihre Meinung dazu? Und: Ist jeder Wissenschaftler in irgendeiner Form ein „Ungeheuer“?

 

Jenkins: Ich habe versucht, in den ersten Szenen einen gewissen „Konversations-Ton“ beizubehalten, der sich im Laufe des Stücks wandelt. Die Normalität, fast schon Gediegenheit von Jekylls, Beatrix’ und Johns Welt spiegelt sich wider in einer Dialog-Struktur, die dem Publikum vertraut ist. Mit dem Einbruch von Hyde in diese Welt ändert sich auch die Sprache. Bemerkenswert ist, daß es zur heutigen Bewusstseins-Forschung Beiträge von Wissenschaftlern aus allen Disziplinen gibt: Physiker, Mediziner, Biologen, Soziologen, Mathematiker, Philosophen u.a. beschäftigen sich damit. Man könnte fast sagen, daß das Bewusstsein wieder den Universalgelehrten vergangener Jahrhunderte verlangt – im Gegensatz zur sonstigen zunehmenden Spezialisierung in der Wissenschaft. Deshalb ist Jekyll in meiner Fassung zwar Mediziner, aber er hat Kenntnisse aus verschiedenen Bereichen und kann diese verknüpfen. Sind Wissenschaftler „Ungeheuer“? Nein, sicherlich nicht. Es gibt Wissenschaftler, die mit größter Vehemenz versuchen nachzuweisen, daß der Mensch nur ein Haufen Neuronen ist, und die trotzdem verheiratet sind und ihre Enkelkinder lieben. Wie geht das zusammen? Diese Diskrepanz zwischen „reiner Lehre“ und Privatleben finde ich im Hinblick auf „Jekyll und Hyde“ besonders interessant.

 

MM: Wie stark beeinflusst Jekyll die Angst, gesellschaftlichen Konventionen nicht zu genügen?

 

Jenkins: Jekyll hat soziale Defizite. Seine Verlobte Beatrix ist da viel geschickter, man kann sagen, sie ist eine „Netzwerkerin“. Und sie ist verärgert, wenn Jekyll ihre Bemühungen durch Ungeschicklichkeit oder Überheblichkeit torpediert. Dabei ist Jekyll gar kein erklärter Feind der gesellschaftlichen Konvention,  er versucht nur, sich ein Leben abseits davon zu etablieren.

 

MM: Ist Hyde ein Katalysator – für versteckte Obsessionen im Unter-Bewusstsein? Einer, der das Gehörte verdaut und die Wahrheit sagt? Der „Sicherheit“ bietet?

 

Jenkins: Ja, das kann man so sagen. Hyde kennt keinerlei Form von Loyalität oder Solidarität, das macht seine Stärke aus. Die Schattenseiten dieses asozialen Verhaltens muss er nicht ausbaden, weil er sich immer rechtzeitig in Jekyll flüchten kann. Das scheint am Anfang tatsächlich eine Art von „Sicherheit“ zu bieten. In unserer Fassung entsteht Hyde und muss sich dann erstmal eine Sprache schaffen. Das heißt, er verwertet die Gespräche, die Jekyll zuletzt geführt hat, löst Begriffe aus ihrem Kontext und wendet sie ins Zynische. Es liegt nahe, daß Jekyll während dieser Gespräche vielleicht auch ähnliches gedacht hat und es Hyde ist, der diese Gedanken dann ausspricht.

 

MM: Ist John der Gegenentwurf zum Janus-Kopf? Weil er seinen „freien Willen in den Dienst der guten Sache stellt“?

 

Jenkins: John macht scheinbar alles richtig: Er stellt sich den sozialen Problemen der Zeit und lässt sich dabei von einem sehr starken Gerechtigkeitssinn leiten. Er riskiert die Unversehrtheit seines Körpers, um der Stimme seines Gewissens zu folgen, ohne daß er durch äußere Einflüsse dazu gezwungen wäre. Zumindest hat er das vor. Aber er scheitert in seinem Vorhaben an der eigenen Bequemlichkeit, stellt also letztlich sein Wohlbefinden über die idealistischen Ziele. John will seinen „freien Willen in den Dienst der guten Sache stellen“, aber sein „freier Wille“ entpuppt sich lediglich als „guter Wille“. Und der bewirkt bekanntlich an sich nicht viel – heute wie damals. John weiß das, leidet darunter und bemitleidet sich dann auch noch selbst.

 

MM: Trägt jeder Jekyll und Hyde in sich? Wann ertappen Sie sich dabei, hyde-isch zu sein?

 

Jenkins: Ich glaube, beim „hyde-isch“-Sein ertappt man sich nicht so häufig, wie bei dem Wunsch, „hyde-isch“ zu sein – und der steckt wohl prinzipiell in jedem. Wohl jeder hat manchmal das Gefühl, es ginge ihm insgesamt besser, wenn er die Einschränkungen durch Kollegen, Familie, Freunde, Feinde – kurz Mitmenschen ignorieren könnte, und auch die Nöte derselben. Man glaubt, ein Recht dazu zu haben, andere beiseite zu schieben, um „auch mal an sich zu denken“, „nicht mehr zu kurz zu kommen“ usw. Aber wohin führt das in der extremsten Konsequenz?

 

MM: Ein paar Worte zur Inszenierung: Spielt ein Schauspieler Jekyll und Hyde? Eine rein körperliche Verwandlung oder eine mit Hilfsmitteln? Es gibt eine Szene, wo sich beide gegenüber stehen – also doch zwei Darsteller?

 

Jenkins:  Es gibt in der Inszenierung tatsächlich zwei Schauspieler für die beiden Figuren bzw. Charaktere (im englischen Theater ist das Wort für „Rolle“ ja tatsächlich „character“…): Christoph Rothenbuchner ist Jekyll, Kaspar Locher ist Hyde. Für die Verwandlungen gibt es ein bühnentechnisches Hilfsmittel. Und am Ende stehen sich die beiden auch einmal gegenüber.

 

MM: Sie haben am Schauspielhaus Graz 2013 die Österreichische Erstaufführung von Elfriede Jelineks FaustIn and out inszeniert. Warum da? Was sind die Vorzüge des Hauses, des Ensembles?

 

Jenkins: Die Stücke von Elfriede Jelinek haben in meiner Biographie einen besonderen Stellenwert. Als ich 1996 nach Wien kam, konnte ich die Uraufführungen von „Sportstück“ und „Das Werk“ sehen. Später war ich Regieassistent der Uraufführungen von „Babel“ und „Über Tiere“. Sowohl als Zuschauer als auch als Mitarbeiter haben mich die Texte und der Umgang mit ihnen stark beeindruckt. Als mir das Schauspielhaus Graz die österreichische Erstaufführung von „FaustIn and out“ anbot, war ich deshalb sofort Feuer und Flamme. Daß ich dafür zwei so großartige Schauspielerinnen wie Verena Lercher und Seyneb Saleh zur Verfügung hatte, war ein zusätzliches Glück. Und meine jetzige Besetzung ist genauso inspiriert und einsatzfreudig. Ja, das Schauspielhaus Graz hat ein hervorragendes Ensemble.

 

MM: Es gibt Verfilmungen von 1920 bis in die Gegenwart. Mit John Barrymore, Frederic March, Spencer Tracy, Jack Palance … Haben Sie einen Favoriten?

 

Jenkins: Die Frederic-March-Verfilmung ist besonders schön wegen ihrer liebevollen Personenregie und der expressionistischen, fast Caligari-haften Bilder. Die Version mit Spencer Tracy war für die Erstellung meiner Fassung insofern wichtig, weil ich mich vor allem im ersten Teil sprachlich an den Drehbuch-Dialogen orientiert habe bzw. Sätze aus dem Film zu neuen Dialogen montiert habe. Sehr gerne mag ich auch die Komödie „Der verrückte Professor“ mit Jerry Lewis. Und ein besonderes Schmankerl ist der Film „Das Testament des Dr. Cordelier“ von Jean Renoir mit dem französischen Film- und Theaterstar Jean-Louis Barrault …

 

Wien, 10.12. 2013 ("Mottingers Meinung")